Zum Attentat in Norwegen: Sprachlosigkeit über die entfesselte Gewalt

Wir sind betroffen und wütend. Wir sind fassungslos und ohne Worte. Wir sind sprachlos, doch empfinden wir das größte Bedürfnis über den Akt entfesselter Gewalt in Norwegen zu reden. Dieses Bedürfnis empfinden wir, weil im Moment so viel geschrieben wird, das wir nicht verstehen und weil – bis jetzt – so wenig darüber geschrieben wird, in welchem politischen und ökonomischen Klima der Anschlag auf das Regierungsviertel und die Ermordung so vieler sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Jugendlicher stattgefunden haben und überhaupt stattfinden konnten. Das öffentliche Schweigen kommt einem Verdrängen gleich. Deswegen fordern wir das Sprechen ein. Wir fordern ein, dass verarbeitet wird, was uns so fassungslos macht, dass darüber reflektiert wird, wo es herkommt, und das kritisiert wird, was es hervorgebracht hat. Die SPD hat mit ihrer Schweigeminute schon viel dazu beigetragen eine Form der Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen, die ohne zu instrumentalisieren der Opfer gedacht hat. Vielleicht hat sie es, weil es zu früh war, nicht vermocht die politischen Kontexte ausreichend zu benennen. Aber jetzt  müssen wir als Linke gemeinsam darüber reden, wie wir die Tat einordnen und was gerade das Gefährliche am politischen Klima in Europa ist.

Einordnung des Täters

Wir stellen fest, dass die kapitalkräftigsten Nationalökonomien in der kapitalistischen Krise von einem sich verschärfenden Chauvinismus geprägt sind. Die Gefahr, die von Neonazis in den USA und Europa ausgeht, ist nicht zu unterschätzen. Aber es handelt sich bei Anders Breivik nicht um einen Neonazi, sondern um einen Anhänger der Neuen Rechten. Dies ist ein wichtiger Unterschied, weil sich die Ideologie der Neuen Rechten zwar in vielerlei Hinsicht mit der von Neonazis deckt, aber entscheidende Unterschiede existieren. Der für den Nazismus so wichtige Antisemitismus ist in seinem 1500 Seitigen Pamphlet kein zentrales Motiv. Wichtiger ist die Vorstellung, es gebe abendländische Werte, die es zu verteidigen gelte, und der explizite Bezug auf die christlichen Fundamente einer vermeintlichen europäischen Identität und die Kreuzritter-Metaphern. Diese sprechen für einen Hintergrund, der sich aus den Vorstellungen der Neuen Rechten speist. Aber anders als deren IdeologInnen belässt er es nicht bei kulturellem Rassismus, sondern bringt explizit völkischen Rassismus zum Ausdruck.

Deshalb und aufgrund der Wahl seiner Mittel ist er als Faschist zu bezeichnen. Die Gewalt als Option ist der Neuen Rechten wesentlich näher als dem etablierten Konservatismus. Daher ist die Tat als Entfesselung der Gewalt, die die Neue Rechte ideologisch hervorgebracht hat, zu begreifen. Die zu Grunde liegende Vorstellung der Gewalt ist jedoch das Fundament aller rechter Strömungen. Während der etablierte Konservatismus die Gewalt über staatliche Institutionen (Verschärfung von Asylgesetzen und den Gesetzen zur „Inneren Sicherheit“, militärische Auslandseinsätze, etc.) als aggressive Vaterlandsverteidigung ausdrückt, spricht die Neue Rechte schon viel eindeutiger von Kriegen und Kreuzzügen gegen die „Feinde des Abendlandes“ und bemüht kriegerische Metaphern und Bilder unmittelbarer Gewalt.

Politisches Klima in Europa

Die Entfesselung der Gewalt liegt der Neuen Rechten näher als dem Konservatismus, weil sie nicht durch den Staat kanalisiert wird. Dass große Teile der Neuen Rechten aus dem konservativen Lager kommen, ist dabei nicht verwunderlich, da die ideologischen Voraussetzung sich nicht wesentlich unterscheiden, sondern es vor allem der Grad der Angst vor einer inneren und äußeren Bedrohung ist, der den Unterschied ausmacht. Weil die Neue Rechte die Bedrohung weitaus stärker empfindet als der Konservatismus, bedient sie sich eben auch der Mittel, die schon im Ansatz brutaler sind – sei es in der Rhetorik, Ästhetik oder der praktischen Zusammenarbeit mit Neonazis.

Die Basis der neu-rechten Parteien glaubt daran, dass es so etwas wie ein „Establishment“ gibt, dass nicht stark genug sei, die aktuellen Bedrohungen zu meistern, dass die Gesellschaft von der 68er-Generation und sogenannten „Gutmenschen“ beherrscht werde. Der Täter in Norwegen bezeichnet diese Durchsetzung in klassisch-antikommunistischer Manier als die Herrschaft des „political correctness“, was er als unmittelbare Folge des „Kulturmarxismus“ bezeichnet. Weil der Staat aufgrund dieser Entwicklungen zum Gegner gehöre, sind sich die selbsternannten Tabubrecher einig, dass nur außerstaatliche „Lösungen“ das Unglück vom christlichen Abendland abwenden können: Die Nation sei im Verfall begriffen – daher rührt auch die apokalyptische Deutung des Täters – und könne nur von denen gerettet werden, die zu drastischen, aber notwendigen Mitteln griffen. Weil die Neu-Rechte Ideologie so sehr von der Angst getrieben ist und ein Reflex auf die von ihr unverstandenen ökonomischen Entwicklungen und ideologischen Konstruktionen ist, entlädt sie sich in eruptiven Gewaltausbrüchen.

Ganz treffend kommentiert diese Motive ein Artikel auf einem Internet-Sprachrohr der Neuen Rechten, dem Blog „Politically Incorrect“: „Was er (Anm.: Breivik) schreibt, sind großenteils Dinge, die auch in diesem Forum stehen könnten. Wir dürfen uns nicht unserer Eigenverantwortung entziehen.“

Trotz aller Differenzen weisen die unterschiedlichen Strömungen auch offensichtliche Gemeinsamkeiten auf: Die Ästhetisierung der Gewalt, die Zeichnung eines heroischen Mannes, der eine vermeintliche Bedrohung in Form des kriegerischen Kampfes abwehren will, ist keine isolierte Phantasie eines psychisch gestörten, sondern durchweg Normalität innerhalb der konservativen und neu-rechten Vorstellungen. Wenn also der Täter in Norwegen das beschriebene Gewaltpotenzial entfesselt, dann tut er das ganz bestimmt nicht alleine.

Verklärung der Gewalt

Dass die bürgerlichen Erklärungsversuche es nicht schaffen, auf die Ursachen der Gewalt zu reflektieren, zeigt sich insbesondere an der Berichterstattung und an den Debatten im Bundestag über die Verschärfung der „Inneren Sicherheit“. In den Medien wird darüber diskutiert ob es sich bei dem Täter um einen Einzelgänger gehandelt habe oder ob er vernetzt sei, psychisch krank oder doch nur ein ausgesprochener Narzisst, ob er von Wahn getrieben war oder aus politischer Überzeugung gehandelt habe.

Wir verstehen die Diskussion nicht. Wer sich einmal das 1500-seitige Pamphlet anschaut, wer sich die minutiöse Vorbereitung, die stringente Durchführung und die inhaltliche Stoßrichtung der Gewalt anschaut, muss doch auf einen Schlag sehen, dass hier an die Oberfläche tritt, was für die rechte Ideologie so zentral ist. Wer bei einem Stimmanteil der neu-rechten norwegischen „Fortschrittspartei“ von 23% den Zusammenhang verkennt und an der These vom Einzeltäter festhält, verharmlost das Gewaltpotenzial.

Man kann beliebige Textzeilen aus dem Pamphlet herauslösen und sie mit der Angst von konservativen Blogs vor „political correctness“, mit der paranoiden Verteidigung vermeintlich abendländischer Errungenschaften von Seiten der CDU/CSU und der blinden Wut auf Linke durch die Neue Rechte vergleichen. Das Ergebnis wäre, was der krampfhafte Versuch der Distanzierung ihrer Sprecher europaweit bereits aussagt: inhaltlich ist die gemeinsame Schnittmenge so groß, dass nur noch die flucht in die Verklärung des Täters und seiner Tat als krankhafte Psychopathie funktioniert. Das eint alle konservativen Kräfte, denn durch die Pathologisierung der Tat wird diese gleichsam entpolitisiert. Somit müssen sie sich politisch nicht mehr mit dem Täter auseinander setzen.
Von liberaler Seite hat man eine Ahnung von der politischen Dimension, die sich nicht unabhängig von dem Erstarken der Neuen Rechten verstehen lässt. Dennoch instrumentalisiert man gemeinsam mit dem Konservatismus die Getöteten und stilisiert sie zu Opfern eines „nationalen Schicksalsschlags“. Im medial weit verbreiteten Ausdruck „Wir trauern mit den Norwegern“ wird unterschlagen, dass die Jugendlichen nicht in erster Linie umgebracht wurden, weil sie NorwegerInnen, sondern weil sie Linke waren, die der Täter für die Auflösung nationaler Werte verantwortlich macht. Wenn die Nation folglich im Sinne einer norwegischen Schicksalsgemeinschaft  beschworen wird, begibt man sich in konservatives Fahrwasser. Das hat freilich mit einem bürgerlichen Unbewusstsein über Ideologie, Krise und Reflexe zu tun.

Krisenbewusstsein der Neuen Rechten

Es ist kein Zufall, dass die Neue Rechten mit ihrer aggressiven Abwehr einer vermeintlichen Zersetzung von innen (durch „den Marxismus“) und einer Bedrohung von außen (durch „den Ausländer“, der als „Islamist“ definiert wird) gerade in den Ländern mit der größten Kapitalkonzentration besonders stark auftreten. Hier ist es wichtig zu differenzieren zwischen den faschistischen Bewegungen in Ungarn, Tschechien und Italien und den neuen – am Liberalismus andockenden – rechten Bewegungen in den Niederlanden, USA, Großbritannien und den skandinavischen Ländern. Was jene in Deutschland betrifft, so sind sie vereinzelt zwar im Aufwind begriffen, dennoch ist der organisierte Neonazismus nach wie vor eine starke Konkurrenz.

Zunächst lautet unsere These, dass die Ideologie der Neuen Rechten ein Krisenbewusstsein ist. Denn die Krise trifft die kapitalkräftigsten Nationen in ganz anderem Maße als beispielsweise Griechenland, Spanien oder Portugal. Während diese es beinahe mit einem Bankrott und handfesten Angriffen auf soziale Infrastruktur, Rechte und Arbeitsbedingungen zu tun haben, geht in den anderen europäischen Nationen hauptsächlich die Sorge vor der Krise um. Der Chauvinismus, der dabei entsteht, ist von einer permanenten Angst vor der Bedrohung „alter Werte“ getrieben. So wird die Ursache der Krise nicht in den kapitalistischen Verwertungsbedingungen gesucht, sondern Schuldige ausgemacht, die diese Krise hervorgebracht hätten. Das ist an sich noch nicht spezifisch für die Neue Rechte. Auch den Appell an das nationale Bewusstsein, die Besinnung auf kulturelle Werte und die rassistisch aufgeladene Angst vor der Bedrohung teilt sie mit dem Konservatismus.
Spezifisch ist für die Neue Rechte die Analyse des Staates als eine vermeintlich von einem „linken Establishment“ geführte Institution. Diese betreibe eine Tabuisierung der Wahrheit durch „political correctness“. So lässt sich der inszenierte Tabubruch als „Wahrheitsfindung“ verklären. Dies geschieht immer schon vor dem Hintergrund geschlossener Feindbilder. Nach innen wird diese „Bedrohung“ auf die „volkszersetzende“ Linke projiziert: Deren Klassenkampf schwäche die Wirtschaft, weil sie nicht geeint am nationalen Reichtum arbeite; deren Feminismus und Perversion schwäche die Bevölkerung, weil sie den „demographischen Absturz“ hervor brächten (der Täter begründet so seine Prognose der vollständigen „Überfremdung“ im Jahr 2083); und deren Homosexualität bedrohe traditionelle Männlichkeit, wodurch diese nicht mehr die notwendige Stärke aufweisen könne, um sich gegen die äußeren Feinde zu wehren. Aus dieser angstgetriebenen Logik ergibt sich folglich auch eine bestimmte Reihenfolge des politischen Kampfes, die der Täter in Norwegen aufgegriffen hat: Die Bekämpfung der Linken habe oberste Priorität, damit die Nation im „Inneren“ gestärkt werde und die „äußeren“ Feinde effektiver bekämpft werden könnten.

Kulturalisierung, Rassismus und Chauvinismus

Vorhin war die Rede von der Ideologie der Neuen Rechten als Krisenbewusstsein. Genau genommen ist es das Krisenbewusstsein des westeuropäischen Kleinbürgertums, das Angst vor dem materiellen Abstieg und – noch genauer – auch Angst vor dem Zerfall der eigenen Identität hat. Letztere braucht es um den materiellen Verfall auszuhalten. Wichtig ist dabei, dass sich Identitätsverlust und materieller Verfall gegenseitig bedingen: Beides braucht Schuldige. In einem bestimmten Maße begünstigt dieser kleinbürgerliche Beißreflex die nationalen Wirtschaftsbedingungen auch für das Kapital. Denn die nationale Einheit geht mit der Bereitschaft einher, niedrige Löhne und Kurzarbeit als vermeintliche Krisenlösungen zu akzeptieren, wie sie in Deutschland bereits vor Jahren gegen den Widerstand der sozialen Kräfte durchgesetzt wurden.

Dabei ist jedoch auch zu differenzieren, dass die neue Rechte sich zwar größtenteils aus dem vom Abstieg bedrohten Kleinbürgertum zusammensetzt, aber ebenso ansprechend für ArbeiterInnen und Arbeitslose, die sich der nationalen Sache zugehörig fühlen, ist. Die neu-rechte English Defence League rekrutiert sich hauptsächlich aus dem ArbeiterInnenmilieu. Daher darf bei der praktischen Perspektive nicht auf einen althergebrachten Kurzschluss verfallen werden, dass nämlich der einfache Bezug auf einen Klassenstandpunkt, das schon alles erledige. Mit diesen Überlegungen stellen sich zusätzliche Schwierigkeiten in der Beantwortung der Frage nach einer möglichen emanzipatorischen Kritik an der Neuen Rechten und den Umgang mit der entfesselten Gewalt.
Wir müssen als Linke also all diese Probleme im Blick behalten und aus der eigenen Sprachlosigkeit und dem eigenen Ohnmachtsgefühl, nicht den Fehler machen, nach dem einfachsten Erklärungsansatz zu greifen.

Wir wollen mit diesen Gedanken, die gerne aufgrund ihrer zwangsläufigen Mängel und möglichen Fehler diskutiert werden sollen, einen Weg finden der Opfern so zu gedenken, dass wir dem politischen Kontext ihres Todes gerecht werden.