Redebeitrag: Gegen jeden Antisemitismus!

Am 19. und 26. Juli fanden in Göttingen, wie in vielen anderen bundesdeutschen Städten, sog. „Friedensdemonstrationen“ statt, die ein Ende der militärischen Einsätze Israels forderten. Vor dem Hintergrund des Leids und der Opfer, die Kriegshandlungen jeder Art mit sich bringen, mag es zunächst nachvollziehbar erscheinen, für ein Ende der Kriegshandlungen auf die Straße gehen zu wollen. Die Selbstbezeichnungen als „Friedensdemos“ beißt sich allerdings stark mit der Realität der Forderungen, Sprechchöre und Reden, die tatsächlich von den vielfältigen TeilnehmerInnen auf die Straße getragen wurden: Angemessener bezeichnete sich die Göttinger Demo von vornherein als „Pro-Gaza“-Demonstration. Noch treffender wäre es aber wohl von einer Anti-Israel-Demo zu sprechen.

Nicht erst offen antisemitische „Judenschweine“-Rufe oder die gewaltsamen Übergriffe einiger aus den Reihen dieser Demonstration auf eine isrealsolidarische Gegenkundgebung deuten darauf hin. Die transportierten „Inhalte“ und die dem zugrundeliegenden „Analysen“ des Konflikts verweisen bereits darauf, dass es vielen nicht um ein „Ende der Gewalt“ in Nah-Ost, sondern vielmehr um die leidenschaftliche Ablehnung des Staates Israels ging.

Dies wird unmittelbar deutlich, wenn wir diese mit den Ereignissen des momentanen Konfliktes kontrastieren. Fassen wir zunächst kurz die Ereignisse zusammen:

  • Drei israelische Jugendliche werden entführt, und kurze Zeit später ermordet.
  • Die israelische Regierung reagiert, verhaftet Verdächtige, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Kontext der Verhaftungen kommt es zu Ausschreitungen, ein palästinensischer Jugendlicher wird von israelischen Nationalisten getötet.
  • Die Hamas nimmt dies zum Anlass, wieder einmal mehr als 4.000 Raketen in Richtung Israel zu schicken. Während die israelische Regierung den Mord an dem palästinensischen Jugendlichen verurteilt und auch gegen diese Täter Strafverfolgungsmaßnahmen einleitet, ruft die Hamas zu weiteren Entführungen auf.
  • Glücklicherweise kann das israelische Raketenabwehrsystem Schlimmstes verhindern. Aber auch der Iron Dome ist nicht unfehlbar: dutzende Raketen schlagen in israelische Städte und Wohngebiete ein und sorgen dort nicht selten für zahlreiche Verletzte und auch Tote.
  • Als Reaktion auf diese erneute Kriegserklärung beschließt die israelische Regierung zu militärischen Verteidigungsmaßnahmen zu greifen und die Raketenstellungen der Hamas im Gaza-Streifen anzugreifen. Trotz Warnungen durch Flugblätter und Telefonanrufe an AnwohnerInnen von Gebäuden und Gebieten, die als Ziel ausgemacht werden, kommt es auch dabei zu vielen Toten und Verletzten.
  • Präzise Angriffe auf militärische Ziele mit möglichst wenig menschlichen Opfern sind in einem so dicht besiedelten Gebiet wie dem Gaza-Streifen fast unmöglich. Nicht zuletzt aber trägt auch die rücksichtslose Politik der Hamas, ihre Waffensysteme gezielt in dicht bewohnten Gebieten, bei Krankenhäusern und Schulen aufzustellen dazu bei, die Zahl der Toten in die Höhe zu treiben. Aufrufe der Hamas an die Bevölkerung, den Räumungsaufforderungen des israelischen Militärs nicht nachzukommen und sich stattdessen als menschliches Schutzschild auf Dächern zu versammeln, setzen dieser menschenverachtenden Strategie noch die Krone auf.

Vor dem Hintergrund, dass der Ausgangspunkt der momentanen Auseinandersetzung ein Mord an israelischen Jugendlichen war, vor dem Hintergrund, dass bei dem Bau von Tunneln auch viele Kinder durch die Hamas in den Tod geschickt wurden, vor dem Hintergrund, dass die Hamas sich in keinster Weise scheut, ZivilistInnen – darunter eben auch Kinder – strategisch einzusetzen, um die „richtige“ mediale Öffentlichkeit zu schaffen – vor dem Hintergrund all dessen erscheint es mindestens zynisch, dass ausgerechnet die Parole „Kindermörder Israel“ zu einer der beliebtesten auf den sog. „Friedensdemos“ aufgestiegen ist. Aber nicht erst plumpe Parolen zeichnen ein verkehrtes Bild. Schon in den Aufrufen und Forderungen, die sich fast ausschließlich an Israel richten, scheint eine verzerrte Wahrnehmung durch:

Von vorn herein wird Israel als Aggressor ausgemacht. Obwohl Israel erst als Reaktion auf die Raketenangriffe der Hamas zu militärischen Mitteln griff, wird wieder und wieder das Bild eines Angriffskrieges oder gar eines Vernichtungskrieges gezeichnet. Die Friedensforderung verengt sich so zu der Forderung an Israel, seine Verteidigungshandlungen einzustellen und somit eben den Raketenbeschuss hinzunehmen. Nun ließe sich eventuell über die Details einer angemessenen Verteidigungsstrategie diskutieren. Aber von einem Bemühen um eine wirkliche Analyse der Ereignisse und Verhältnisse, die zur Kriegssituation geführt haben, kann kaum die Rede sein. Statt die Geschehnisse aufzurollen, statt sie in den Kontext langjähriger Auseinandersetzungen, der permanenten Bedrohung des Staates Israel und seiner Bevölkerung durch den bewaffneten Antisemitismus einzuordnen, konzentriert sich die „Kritik“ der „Friedensbewegten“ darauf, in der militärischen Überlegenheit Israels bereits den Beweis für dessen Verwerflichkeit und dessen Verantwortung für die Geschehnisse gefunden zu haben.

Dieser Wahrnehmung liegt ein völkisch-identitäres Weltbild zu Grunde, dass die Komplexität der Situation auf ebenso einfache wie falsche Formeln herunterbricht: „Die Palästinenser“ werden ebenso wie Israel als widerspruchsfreie Kollektive gedacht, wobei die palästinensische Bevölkerung als das wehrlose Opfer dem scheinbar „aggressiv-militaristischen“ Staat Israel gegenüber gestellt wird. Im schlimmsten Fall wird Israel kurzerhand sogar mit allen Jüdinnen und Juden in aller Welt gleichgesetzt.

Einer solchen Sichtweise auf den Konflikt ist es selbstverständlich ein Leichtes auszublenden, dass der Raketenbeschuss durch die Hamas die Kriegshandlungen eingeleitet hat. Ebenso leicht fällt es zu ignorieren, dass gerade Israels Angebote für einen Waffenstillstand entweder direkt ausgeschlagen oder durch weitere Raketen beantwortet wurden.

Am ehesten ist diese Sichtweise noch in der Lage, Widersprüche wahrzunehmen, wenn Israelis angeführt werden, die sich gegen die Politik der israelischen Regierung aussprechen. Als wäre es so überraschend, dass es auch in der israelischen Zivilgesellschaft Differenzen und unterschiedliche politische Akteure gäbe. Damit hört es dann in aller Regel aber auch schon wieder auf.

Vielleicht noch fataler aber ist, dass dieser Sichtweise interne Herrschaftsstrukturen entgehen, deren Betrachtung deutlich machen würde, dass die „leidende Bevölkerung“ im Gaza-Streifen eben weder eine passive noch homogene Masse ist. Diese hat nicht erst unter israelischen Militäreinsätzen zu leiden: Organisationen wie die islamistische Hamas haben es sich nicht nur zum Ziel gemacht, Israel zu zerstören und einen islamistischen Gottesstaat zu errichten. Ihnen sind dazu alle Mittel recht, eben auch auf Kosten der „eigenen“ Bevölkerung. Diese soll von Kindesalter an zu willigen Märtyrern im Kampf gegen das verhasste Israel erzogen werden.

Entsprechend geht sie dabei eben so brutal auch gegen PalästinenserInnen vor: Erst jüngst ließ die Hamas wieder einmal angebliche „Kollaborateure“ hinrichten. Seit Jahrzehnten führt die Hamas auch einen Krieg nach innen. Gerade diejenigen, die im Kampf der Hamas einen legitimen Befreiungskampf eines scheinbar „unterdrückten Volkes“ sehen wollen, seien hier daran erinnert, dass dieser Kampf sich auch gegen sekulare und emanzipatorische Kräfte richtet. Gerade auch gegen solche, die eine Koexistenz mit Israel anstreben. Damit wird jede Chance auf ein friedliches und menschenwürdiges Leben in Gaza vereitelt. Die Mitleid-erregenden Bilder von flüchtenden Familien und getöteten palästinensischen Kindern, die durch die westliche Medienwelt ziehen, sind für sie keine Tragödie, sondern eine willkommene bis bewusst provozierte Medienstrategie, die den antisemitischen Feldzug die nötige Legitimation bei all jenen verschafft, die auch in den letzten Monaten wieder „für Palästina“ auf die Straße gingen.

Dies ändert selbstverständlich nichts daran, dass die momentane Situation für viele Menschen im Gaza-Streifen tatsächlich eine schreckliche, furchterregende Situation ist. Es ist ein von Angst, Verzweiflung und Tod geprägter Alltag. Dies kann aber niemals rechtfertigen mit falschen Gewissheiten zur antisemitischen Hetze gegen Israel überzugehen. Ganz im Gegenteil: Die Politik der Hamas verdient keine Sympathie im Namen der Opfer – sie hat eben diese mit zu verantworten. Ihr kann auch deswegen nur mit radikaler Ablehnung begegnet werden.

Obwohl anerkennenswerterweise zumindest die OrganisatorInnen der zweiten „Pro-Gaza“-Kundgebung in Göttingen es geschafft haben, allzu offen antisemitische Äußerungen und Symbole zu „verbieten“, konnten und wollten sie dies nicht leisten. Ihre scheinbare „Analyse“ arbeitet mit plumpen Gewissheiten und bedient sich und bedient weiterhin antisemitische Stereotype. Eine Anti-Kriegsdemo, die diesen Namen verdient, könnte nur eine sein, die konsequent sowohl gegen Antisemitismus in jeder Form, Islamismus und Organisationen wie die Hamas ausgerichtet ist. Mit Organisationen und Ideologien, deren erklärtes Ziel die Vernichtung von Israel ist, ist weder ein „Frieden in Nah-Ost“ zu haben, noch ein menschenwürdiges Leben in Gaza.

→Für ein gutes Leben ohne Angst in Gaza und Israel

→Free Gaza from Hamas, gegen jeden Antisemitismus


Über den Antisemitismus dieser Tage, der eigentlich der Alltägliche und immer Wiederkehrende ist…

Vor einigen Wochen titelte die Bildzeitung „Nie wieder Judenhass!“ und Joachim Gauck sagte: „Wir in Deutschland dulden keinen Antisemitismus.“ Dieses „Wir“ – wer soll das eigentlich sein? Es meint das gleiche „Wir“, das von jüdischen „Mit-Bürgern“ schwafelt, Jüdinnen und Juden also von den nur-„Bürgern“ unterscheidet. „Wir in Deutschland dulden keinen Antisemitismus“, sagte Gauck. Doch die Zahlen der letzten Studien zu Antisemitismus sagen etwas anderes: die des Bundestages deckte auf, dass mindestens 20% der Deutschen antisemitischen Aussagen zustimmen.1

Erst wenn auf deutschen Straßen „Jude, Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“ gerufen wird, kommt es zu einer kleinen öffentlichen Empörung, die eigentlich nichts anderes ist, als ein hilfloser Reflex. Das Problem: diese Gesellschaft hat keinen Begriff von Antisemitismus. Deswegen kann es in der Öffentlichkeit auch nie eine wirkliche Kritik des Antisemitismus geben, stattdessen kommen lediglich Phrasen.

Was aber also ist Antisemitismus? Antisemitismus ist ein geschlossenes Weltbild, Ideologie, Alltagsreligion und eine vermeintliche Antwort auf die Widersprüche dieser Welt. Antisemitische Äußerungen müssen gar nicht wirklich antisemitisch gemeint sein und sind es oft dennoch – eben wenn sie sich antisemitischer Motive und Argumentationsmuster bedienen. Um Antisemitismus zu erkennen, braucht man Sensibilität und Empathie und man muss sich ein wenig auf die Geschichte antisemitischer Motive und Stereotype einlassen. Als eine Entgegnung auf alles, was negativ an der Moderne empfunden wurde, kam der moderne Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts in gesellschaftlicher Breite auf – die Motive aber sind älter und halten sich oft bis heute. Wir wollen uns kurz die Mühe machen, die sich leider oft nicht gemacht wird, und zumindest in Ansätzen darlegen, was Antisemitismus ist. Heute – vor allem im Kontext des Gaza-Krieges, aber definitiv nicht nur – drückt sich Antisemitismus auf mehrere Arten aus:

  1. Man sieht derzeit das Bestreben in Europa, alle Jüdinnen und Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen. In Deutschland, aber auch etwa in Frankreich, werden Jüdinnen und Juden angegriffen, Synagogen beschmiert, koschere Geschäfte entglast und jüdische Organisationen bekommen Schmähschriften mit dem Aufruf „ihr Staat“ solle die Angriffe auf den Gaza-Streifen stoppen. Es gibt also neben der erwähnten Trennung von Juden und Deutschen zudem eine Ineinssetzung von Juden und Israelis.

  2. Antisemitisch ist auch, wenn ein doppelter Maßstab gegenüber dem Staat Israel angewandt wird, das heißt die israelische Politik ganz anders bewertet wird als die der Regierungen anderer demokratischer Staaten. Es ist immer danach zu fragen, was wirklich die Intention ist, wenn jemand sich voller Empörung zum Nahost-Konflikt äußert, stets über das Unrecht von Seiten Israels Bescheid weiß und ansonsten zu anderen Konflikten auf der Welt schweigt.

  3. Oft, gerade auch auf den Friedensdemos oder in sozialen Netzwerken, bedienen sich die Leute antisemitischer Motive, wenn sie in ihrer Argumentation an die Substanz des israelischen Nationalstaates rühren, also ihm sein Existenzrecht absprechen. Dann ist die Rede von einem „Gebilde“ in der Region und die Wurzeln des Konflikts scheinen eindeutig für den Zeitpunkt ausgemacht, an dem angeblich „Israel“ „dem palästinensischen Volk das Land wegnahm“. Diese Äußerungen geschehen zumeist ohne Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nahen Ostens, mit der Geschichte von Nationalstaaten und des nation-buildings überhaupt. Kaum einem anderen Staat wird seine Gründung vorgeworfen, Israel wird das Existenzrecht abgesprochen. Umso krasser ist es, wenn dies gegenüber dem einzigen Land auf der Welt geschieht, das auf dem Grundsatz basiert, Jüdinnen und Juden vor Antsemitismus zu schützen.

  4. Vielfach auf Schildern und in Parolen der Free-Gaza-Demos kommt es zu einer krassen Dämonisierung des israelischen Staates oder seiner Regierung, aber auch seiner Bewohner_innen: Beispiel dafür sind die häufigen Vergleiche à la „die machen das Gleiche wie die Nazis“, „der Gaza-Streifen als KZ“ etc. Dann ist davon die Rede, der israelische Staat führe einen Vernichtungskrieg und betreibe Genozid am „palästinensischen Volk“. Die Zustände in Gaza mit Analogien zum Nationalsozialismus zu belegen und Israel mit dem schlimmsten aus dem moralischen Vokabular zu belegen – „Kindermörder“, „Frauenmörder“, „Völkermöder“ – zeugt wohl kaum von einer Anteilnahme an die Situation von Menschen in Gaza, als mehr von dem Bedürfnis, die besondere Legitimität Israels als jüdischer Staat in Frage zu stellen. Gerade die Formel vom „Kinder-“ und „Frauenmord“ begibt sich in das Fahrwasser von alten antisemitischen Projektionen, die in dem Juden schon immer eine besondere Gefahr für die Kinder und Frauen ausgemacht haben. Durch die drastischste Wortwahl wird deutlich: diese Demonstrierenden gehen lieber von einer bösartigen Intention Israels aus, anstatt sich mit den komplexen politischen Verhältnissen auseinanderzusetzen

    Und nicht zuletzt gilt für Deutsche mit deutschen Großeltern: Endlich muss sich nicht mehr schuldig gefühlt werden für den Völkermord an den Jüdinnen und Juden, denn hier begeht der Jude selber einen.

  5. In den Diskussionen über Fotos und über Fakten prangern viele Gegner_innen Israels die „Manipulation durch die Medien“ an. Die Berichte werden von Verschwörungstheoretiker_innen in Kommentarspalten und Redebeiträgen verbunden mit dem Stereotyp, Juden seien mächtig, kontrollierten und beeinflussten wichtige Stellen. Dieses Motiv der jüdischen Weltverschwörung ist eines der ältesten und mit der vollständigen Durchsetzung des Kapitalismus eines der wirkungsvollsten: das Unverstandene der Moderne wird dem Juden angelastet.

  6. Gerade was den letzten Punkt angeht, zelebrieren die Gegner_innen Isreals dieser Tage fröhlich den Tabubruch: Sie wollen ja nichts als Frieden. Es werden ganz einfache und homogenisierende Begriffe – „Wahrheit, Frieden, Volk“ – gegen eine komplexe Realität in Anschlag gebracht. Staat sich mit den Widersprüchen der Situation auseinanderzusetzen und diese auszuhalten, lösen sie sie einseitig auf. Es ist längst klar, wer „Wahrheit, Frieden und Volk“ bedroht: Israel und die Juden.

Wie funktioniert nun Antisemitismus? Antisemitismus bedeutet in erster Linie, eine widersprüchliche und komplizierte Wirklichkeit enorm zu vereinfachen. Antisemitismus verschafft eine einfache Erklärung, wie die Welt funktioniert, und ermöglicht eine Unterscheidung in eindeutig gut und eindeutig böse. Gesellschaftliche Verhältnisse werden auf Figuren heruntergebrochen – auf den Juden. Antisemitismus hat nichts mit realen Jüdinnen und Juden zu tun – er ist so etwas wie ein Gerücht über sie, das man ausschmücken und weitertratschen kann. Das Praktische daran ist: Diese Figur des Juden ist so uneindeutig und in sich widersprüchlich, dass man sie für alles verantwortlich machen kann. Der Jude erscheint immer als das Dritte, das, was nirgendwo reinpasst, weder das Eigene noch das Fremde sondern etwas Undefinierbares. In der widersprüchlichen Figur des Juden wird die gesellschaftliche, die kapitalistische Wirklichkeit mit ihren Strukturen, Akteur_innen, Kräfteverhältnissen, Systemzwängen, Tendenzen, Ideologien, Eigendynamiken usw. personalisiert, die gesellschaftlichen Verhältnisse werden dem Juden angelastet.

Weshalb Jüdinnen und Juden? Dies hat historische Gründe, weil Juden lange Zeit in den europäischen Gesellschaften kaum etwas anderes tun durften als Geld zu verleihen und Handel zu treiben – Landbesitz war ihnen untersagt und ein Beruf im Handwerk ebenfalls. Als sich die Gesellschaft im Übergang zur Moderne (also zu Beginn des 19. Jahrhunderts) wandelte, wurde der Jude als verantwortlich für all das ausgemacht, was als schlecht erfahren wurde. Durch Projektion, also einen psychologischen Move, machte man am Juden Eigenschaften aus, die eigentlich Eigenschaften der gesellschaftlichen Verhältnisse waren – z.B. die Allgegenwärtigkeit und Abstraktheit des Geldes, die dann in eine jüdische Übermacht übersetzt wurde. Es braucht also auch einen Begriff vom Kapitalismus, um Antisemitismus erfassen und kritisieren zu können.

Antisemitismus ist latent die ganze Zeit da. Und als Aggression gegenüber Israel wird er momentan manifest. Auch weil der sogenannte Nahostkonflikt so widersprüchlich ist, eignet er sich hervorragend dazu, sich antisemitischer „Erklärungsmuster“ zu bedienen.

Um zum Ende zu kommen: Eine Kritik an der israelischen Politik, die sich keiner antisemitischen Ressentiments bedient, ist auch kein Antisemitismus. Solch eine Kritik zu formulieren, schaffen allerdings die wenigsten. Gewalt gegen Jüdinnen und Juden erscheint vielen oft lediglich als falsche Form der „Kritik“ an Israel, anstatt es als antisemitische Praxis wahrzunehmen und ihr entsprechend zu begegnen. In den Übergriffen der letzten Wochen spiegelt sich wider, wie real die Gefahr des Zusammenspiels antisemitischer Gewalt, antisemitischer Semantik und des Wegschauens der Mehrheitsgesellschaft ist. Das beginnt bereits dort, wo Jüdinnen und Juden durch das dumpf-deutsche „Mit-Bürger“ aus der Wir-Gruppe herausdefiniert werden.

Gegen jeden Antisemitismus!

Kapitalismus abschaffen!

1Vgl.: Tagesschau.de: Antisemitismus in der Gesellschaft tief verankert. 23.01.2012.