Redebeitrag: Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen!

Redebeitrag gehalten auf der Kundgebung zum Auftakt des NSU-Prozesses in München am 6. Mai 2013

Am Samstag, den 13.4. sind in München mehrere tausend Menschen gegen die Verstrickungen von Verfassungsschutz und NSU, gegen alltäglichen und institutionellen Rassismus und gegen die Verkehrung von Opfern und TäterInnen der NSU-Morde auf die Straße gegangen.

Als Teil des Bündnisses “Extrem Daneben” haben wir uns an der Mobilisierung nach München beteiligt und halten es für wichtig, dass wir einen selbstkritischen Umgang mit unserer Politik finden. Daher möchten wir in unserem Redebeitrag unsere Eindrücke und die sich daran anschließenden unfertigen Gedanken und Fragen mit euch teilen. Damit wollen wir eine Debatte anregen, die versucht aus Fehlern, Missständen und Problemen zu lernen und in der Lage ist, die Lücken bisheriger Erklärungsversuche zu füllen.

Wir versuchen im Rahmen des Bündnisses seit mehr als einem Jahr zu verstehen, was es bedeutet, dass Neonazis jahrelang ungehindert morden konnten und nur durch Zufall an weiteren Morden gehindert wurden. Wir haben nach München mobilisiert mit dem Bewusstsein, dass es ungeheuer wichtig ist, als Linke an dem Tag auf die Straße zu gehen – insofern sind wir eigentlich von einer der größten Demonstrationen in der Bundesrepublik seit den Protesten gegen die Agenda 2010 ausgegangen.

Doch sowohl die Unterstützer_innenliste, als auch die Demo selbst haben bei uns Skepsis ausgelöst. Im Folgenden wollen wir vier Punkte aufgreifen die uns insbesondere im Gedächtnis geblieben sind.

Es waren nur wenige Menschen aus dem sogenannten bürgerlichen Spektrum da. Ein paar Gewerkschafter_innen, ein kleiner Block von “München ist bunt”. Aber das liberale Bürgertum das sich so gerne in Rage redet über ungerechte Platzvergaben an türkische Medienvertreter_innen war nicht zu finden. Von etwa 80 Millionen Menschen, die in Deutschland leben, kamen gerade einmal 7.000, um ihre Solidarität mit den Angehörigen der Opfer zu bekunden. Wir wollen die Proteste nicht gegeneinander ausspielen. Aber auf der Demonstration “Wir haben es satt – für gutes Essen und gute Landwirtschaft” in Berlin waren es 25.000. Das steht doch in keinem Verhältnis zueinander?! In Anbetracht dieser Zahlen ist es nicht nur richtig sondern politisch auch wichtig festzustellen, dass die Deutschen ein massives Demokratiedefizit aufweisen.

Aber das ist auch eine Binsenweisheit, zumindest in Teilen der Linken. Es ist einfach – wenn auch richtig – die Verantwortung der deutschen Mehrheitsgesellschaft herauszustellen und anzuprangern. Doch es fällt dadurch zu leicht, den Blick dafür zu verlieren, welche Rolle linke Intervention in den Jahren der NSU-Morde gespielt hat: Bedauerlicherweise keine. Das bringt uns zum zweiten Punkt.

Denn auch aus Göttingen sind zur Demonstration nach München nur knapp 40 Menschen angereist. Vor Ort gab es keinen einzigen Redebeitrag, der selbstkritisch der Frage nachgegangen wäre, warum die Linke sich all die Jahre zu dem Thema kaum geäußert hat. Gewissheiten ob der Zäsur wurden nicht in Frage gestellt. Worin besteht denn diese Zäsur genau? Wir finden, dass sich bisher kein Begriff davon gemacht wurde, was die Morde des NSU für einen Rechtsstaat mit nationalsozialistischer Vergangenheit bedeuten könnten, der sich nun als geläutert darstellt. Wir halten die meisten Erklärungsansätze, die bisher geliefert worden sind, für unbefriedigend. Die bis ins Unendliche wiederholten Parolen wie “Hinter dem Faschismus steht das Kapital” erklären nichts, sie bekunden keine Solidarität, sie dienen lediglich der politischen Zurschaustellung des: “Wir haben es doch immer gewusst! Der Kapitalismus ist scheiße.” Aber gewusst haben nur die wenigsten etwas und erklären können es noch weniger. Sicherlich hatte Max Horkheimer recht als er 1939 sagte: “Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.” Aber der Faschismus lässt sich nicht einfach so aus den Kapitalinteressen ableiten. Die Dimitrow-These kann längst als widerlegt gelten – vor allem im Bezug auf den historischen Nationalsozialismus. Wir brauchen andere, neue und vor allem differenzierte Erklärungsansätze.

Als drittes stellt sich für uns die Frage danach, wie wir uns als Linke auf die Angehörigen der Opfer überhaupt beziehen können. Bei der Auftaktkundgebung in München herrschte überwiegend Desinteresse an den Redebeiträgen von migrantischen Organisationen und AktivistInnen – es gab nur wenig Reaktionen und Beifall. Das ist merkwürdig. Denn schließlich sind es die Angehörigen der Opfer, die von alltäglichem und institutionellem Rassismus betroffen sind. Sie sind es, auf die niemand hörte, als sie vermuteten, dass Nazis hinter den Morden stecken. Und sie sind es, die von den Behörden zu TäterInnen gemacht worden sind, nachdem ihre Bekannten, Freunde und Verwandten ermordet wurden.

Als Linke bewegen wir uns in einem Spannungsverhältnis: wir sind nach München gefahren mit dem Wissen, dass Deutschland scheiße ist, dass vom deutschen Staat nichts zu erwarten ist und dass in Deutschland ein kaltes und menschenverachtendes Klima herrscht. Die Redebeiträge gingen daher für uns an vielen Stellen in der Analyse und in der Konsequenz nicht weit genug. Denn wir fordern nicht ein geläutertes, aufgeklärtes Deutschland, sondern sehen Deutschland als ein zu beseitigendes Grundproblem an. Aber wie kann unser Umgang dann aussehen? Wir müssen auch unbedingt die Forderung ernst nehmen, dass die Angehörigen einen öffentlichen Prozess haben wollen, an dessen Ende die Verurteilung und Bestrafung der Täter steht. Doch der Prozess sorgt gleichzeitig dafür, dass so viel ausgespart wird: Nicht die V-Männer, nicht die Akteure im Verfassungsschutz und nicht die Mehrheitsgesellschaft sitzen auf der Anklagebank. Sondern 5 Nazis, die gesondert, als Individuen betrachtet werden. Das ist ein Widerspruch in dem wir uns bewegen. Aber wir müssen den Widerspruch an dieser Stelle aushalten und nicht so tun, als würde er nicht existieren.

Das bringt uns zum vierten und letzten Punkt den wir thematisieren wollen. Als die Demo los laufen sollte, wurde die Reihenfolge der Blöcke verlesen. Zunächst sollten antifaschistische und antirassistische Initiativen vorneweg laufen. Danach sollten internationalistische und antirassistische Initiativen kommen und schließlich sollte es noch einen Block aus Parteien und allen Anderen geben. Was dann folgte, war eine hochgradig unangemessene Zurschaustellung von Machtpolitik und Geltungsbedürfnis. Die MLPD setzte sich an die Demospitze und versuchte sich zu profilieren. Alle möglichen K-Gruppen, ML-Gruppen und Parteien versuchten möglichst viel Flyer unter die Leute zu bringen, die sich tatsächlich kaum voneinander unterschieden. Die Einfalt mit der versucht wird, eine derartige Zäsur in einfache, allgemeine Floskeln zu verpacken, zeugt von Kälte – die rassistische Mordserie wird lediglich als Gelegenheit begriffen, sich zu profilieren, sich selbst Recht zu geben.

Wir wissen nicht, wie es weiter gehen kann und soll. Wir wissen aber, dass die Linke selbstkritischer sein sollte, dass sie aufhören muss, immer die gleiche Antwort parat zu haben. Kritik bedeutet, dass man aus der aktuellen politischen Lage, aus der Komplexität heraus das Leid, das diese Gesellschaft täglich aufs Neue produziert einordnet und zu begreifen versucht. Denn die Haltung “Wir haben es doch immer gewusst” ist mit Empathie nicht zu vereinbaren – so werden wir blind für die Besonderheiten und Personen, Opfer und Angehörige, um die es eigentlich geht. So verlieren wir das kritische Moment, um dass es uns immer wieder gehen muss: Nicht ein für allemal die Welt erklären zu können, um sich abschließend nur noch selbst zu bestätigen. Erst wenn wir uns das eingestehen, können wir uns dran machen uns einen gemeinsamen Begriff davon zu machen, was der NSU überhaupt war, was es für den “geläuterten Rechtsstaat” Deutschland bedeutet, dass bis tief ins Mark seiner Sicherheitsarchitektur ein mörderischer Rassismus vorherrscht. Doch dazu braucht es mehr als nur den Begriff Rassismus. Dazu brauchen wir einen Begriff vom Staat, einen von Demokratie, einen von Ideologie.

Ohne das Rad neu erfinden zu wollen: Aber wir stehen erst am Anfang einer Debatte und nicht am Ende!